EGGE-WESER 1982 Band 1 / Heft 4 Seiten 191-192

Mittwoch, 26.Mai 1982, Nr.120, Seite 32 Natur und Wissenschaft Frankfurter Allgemeine Zeitung

Spitzenforschung in Deutschland (30)

Gewinn und Verlust im Haushalt der Natur

Lebensgemeinschaften von Pflanzen und Tieren / Beispielhafte ökologische Grundlagenforschung im Solling

Wer heute seine Forschungen mit dem Zusatz "ökologisch" schmücken kann, darf sich allgemeiner Beachtung sicher sein. Dabei wagte man vor 25 Jahren, als mit der Planung des “Internationalen Biologischen Programms” (IBP) begonnen wurde, noch nicht, mit dem Wort von der Ökosystemforschung an die Öffentlichkeit zu treten. Der Begriff der Ökologie wurde zwar bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts von dem Deutschen Ernst Haeckel geprägt, doch vermochte sich dieser neue Forschungszweig lange nicht als eigenständiges Gebiet in der Wissenschaft durchzusetzen. Inzwischen hat man erkannt, daß alle Lebewesen einschließlich des Menschen mit ihrer Umwelt ein ökologisches System bilden, dessen einzelne Beziehungen nur im Zusammenhang verstanden werden können.

Vor allem die Lebensgemeinschaften der Pflanzen und Tiere auf dem Land waren noch nirgends von Forschern verschiedener Fachrichtungen gründlich ökologisch untersucht worden. Zusammen mit belgischen und englischen Biologen leitete Professor Heinz Ellenberg von der Universität Göttingen die Vorbereitungen für die Forschungen auf diesem Gebiet. Als einer der wichtigsten Beiträge zum IBP entwickelte sich das deutsche Solling-Projekt, ein beispielhaftes ökologisches Vorhaben.

Für die Forscher war es von vornherein klar, daß man sich notwendigerweise auf einige typische Ökosysteme beschränken müsse, wenn man ein möglichst vollständiges Bild der Lebensvorgänge und Stoffumsätze gewinnen wollte. Das deutsche IBP-Komitee einigte sich auf den etwa 55 Kilometer nordwestlich von Göttingen gelegenen Hochsolling, eine bis über 500 Meter ansteigende Buntsandsteintafel zwischen Weser und Leine. Auf einer bodensauren Lößschicht befinden sich Ökosysteme, die auch für andere Gebiete Mitteleuropas typisch sind. Vier von ihnen, ein bodensaurer Buchenwald, ein Fichtenforst, eine Goldhaferwiese und ein intensiv bewirtschafteter Acker, wurden ab 1966 näher untersucht, finanziell unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Um die Komplexität der Ökosysteme, den Auf- und Abbau der belebten Materie und die Stoffumsätze erfassen zu können, wurde das Solling-Projekt in drei Bereiche gegliedert. So untersuchte man das Pflanzenwachstum (Primärproduktion), die Rolle der Tiere (Sekundärproduktion) und die abiotischen Faktoren (Wasser und Stoffumsatz) zunächst getrennt, um später eine möglichst vollständige Gesamtbilanz ziehen zu können.

In dem von Ellenberg koordinierten botanischen Teil des Solling-Projekts kam der Bestimmung des Pflanzenzuwachses, der sogenannten Nettoprimärproduktion,

die größte Bedeutung zu. Die mit Chlorophyll ausgestatteten grünen Pflanzen sind die alleinigen Stofflieferanten eines Ökosystems, da nur sie das Kohlendioxyd der Luft mit Hilfe von Wasser und Sonnenlicht in feste Materie umwandeln können.

Alle anderen Organismen bilden eine Nahrungskette, deren einzelne Glieder direkt oder indirekt von den Pflanzen abhängen. Art und Menge der pflanzlichen Primärproduktion sind daher für jedes Ökosystem überaus wichtig. Pflanzen sind aber nicht nur Produzenten, sondern auch Verbraucher. Da sie – ebenso wie die Tiere – einen Stoffwechsel haben und auch atmen, benötigen sie einen Teil der Photosyntheseprodukte für die eigenen Lebensvorgänge. Entscheidend für die pflanzliche Stoffbilanz ist daher die Nettoprimärproduktion, diejenige Biomasse, die nach Abzug des Eigenverbrauchs von der ursprünglichen Photosyntheseleistung übrigbleibt. Sie entspricht dem tatsächlichen Pflanzenzuwachs (Ertrag) innerhalb eines Jahres. Dieser kann, entsprechend der darin gespeicherten Sonnenenergie, in Kilokalorien gemessen werden.

Während sich der oberirdische Pflanzenzuwachs verhältnismäßig leicht bestimmen läßt, bereitete es große Schwierigkeiten, den Wurzelertrag zu erfassen, der ja ebenfalls zur pflanzlichen Biomasse eines Ökosysterns gehört. Durch Beobachtung des Wurzelwachstums hinter in den Boden eingelassenen Glasscheiben und durch Zählen von Wurzelspitzen konnte leichter zwischen alten und neuen Wurzeln unterschieden und die Zuwachsmenge wenigstens näherungsweise bestimmt werden. Der ober- und unterirdische Jahreszuwachs der Pflanzen In einem Bestand bilden zusammen den Jahresertrag.

Eines der überraschendsten Ergebnisse der botanischen Forschung Im Solling ist zweifellos, daß der gesamte Jahresertrag an Biomasse in den verschiedenen Beständen annähernd gleich ist, unabhängig davon, ob es sich um einen alten Fichtenforst oder einen jüngeren Buchenwald, eine Wiese oder einen Acker handelt. Auch eine Düngung – etwa auf dem Acker – hat kaum einen Einfluß auf den Gesamtertrag an pflanzlicher Biomasse. Die wirtschaftliche Bedeutung der Düngung liegt darin, daß unter ihrem Einfluß der oberirdische Pflanzenzuwachs deutlich steigt, ohne daß eine entsprechende Vergrößerung der Wurzelmasse nötig ist. In einem naturnahen Ökosystem, etwa einem Wald, übernehmen die Mikroorganismen gewissermaßen die Düngung. Sie zersetzen die Streu und machen die darin enthaltenen Nährstoffe für die Pflanzen wieder verfügbar. Auf einem Hektar Buchenwald des Solling etwa liefern die Mikroorganismen pro Jahr 100 Kilogramm Mineralstickstoff.

Beim Vergleich mit der von den Meteorologen gemessenen Strahlungsenergie zeigt sich, daß die Pflanzen verhältnismäßig schlechte Energieverwerter sind. Im Jahresdurchschnitt wird nur ein Prozent der eingestrahlten Sonnenenergie in der Biomasse gespeichert. Die Wasserverdunstung verbraucht rund zwei Drittel der Sonnenstrahlung. Der Rest wird reflektiert oder in Wärme verwandelt. Insgesamt werden auf jedem Hektar Wald, Wiese oder Acker im Jahr rund 80 Millionen Kilokalorien in der Pflanzenmasse gebunden.

Auch wenn nur ein geringer Teil der Strahlungsenergie in der Biomasse gespeichert wird, ist das Licht dennoch ein begrenzender Faktor für die Photosyntheseleistung. Dies zeigte sich bei den von Professor O. L. Lange von der Universität Würzburg geleiteten Messungen mit Miniaturklimakammern aus durchsichtigem Plexiglas. An den darin eingeschlossenen Buchenblättern, die nicht von der Pflanze abgetrennt werden mußten, wurde fortlaufend der Kohlendioxyd- und Wasserumsatz registriert. Dabei stellte sich heraus, daß schon einzelne Wolken die Photosyntheseleistung um ein Drittel mindern können.

Große Schwierigkeiten hatte besonders die von Professor W. Funke von der Universität Ulm geleitete zoologische Forschergruppe zu überwinden, da zu Beginn des Projektes noch überaus wenig über die Rolle von Tieren in Landökosystemen bekannt war. Manche Tiere befinden sich zu verschiedenen Jahreszeiten abwechselnd in jedem der untersuchten Ökosysteme des Solling. Dazu kommt die enorme Artenvielfalt der wirbellosen Tiere, insbesondere der Gliederfüßler, zu denen die Spinnen, Tausendfüßler und Insekten zählen. Am genauesten ist bisher die Fauna des Buchenwaldes untersucht. Die Forscher mußten zunächst Fanggeräte entwickeln, um Näheres über den Bestand und die Wanderungen der wirbellosen Tiere erfahren zu können. Diese sogenannten Eklektoren, die auf dem Waldboden aufgestellt oder in den Baumstämmen befestigt wurden, bestehen aus einem pyramidenförmigen Gestell, das mit einem dunklen Tuch überzogen ist. Wenn die Tiere im Eklektor dem Licht entgegenkrabbeln, das von oben einfällt, fallen sie in ein Sammelgefäß.

Die Fauna der Ökosysteme bildet eine vielfach verzweigte Nahrungskette, in der die in der Pflanzenmasse gebundene Sonnenenergie schrittweise verbraucht wird. Sie beginnt sowohl mit den eigentlichen pflanzenfressenden Tieren (“Schädlingen”), die etwa von den Blättern oder vom Holz der Bäume leben, als auch mit den Abfallvertilgern, die sich mit den abgestorbenen Pflanzenresten begnügen.


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Als nächstes Glied in der Kette folgen die Räuber und Parasiten, welche sich von den pflanzen- und abfallfressenden Tieren ernähren. Der Stoffkreislauf wird geschlossen durch Mikroorganismen, die alles abgestorbene organische Material – etwa die toten Körper von räuberischen Tieren – zersetzen und in kleinste Bestandteile zerlegen. Als anorganische Nährstoffe können diese von den Pflanzenwurzeln wieder aufgenommen werden.

Bisher haben die Forscher im Buchenwald des Solling über 500 verschiedene niedere und höhere Tierarten gefunden. Darunter befinden sich viele bisher nicht beschriebene Spezies. Man schätzt aber, daß damit erst höchstens ein Drittel der tatsächlich vorkommenden Arten nachgewiesen ist. Lediglich 50 bis 100 Tierarten dürften aber für das Ökosystem wirklich bestimmend sein. Die höchste Individuenzahl tritt im Boden auf, wo ein Quadratmeter bis zu 113 Millionen Amöben und Fadenwürmer sowie 300 000 Milben enthält. Überraschend ist der Befund, daß die eintönig erscheinenden Fichtenbestände offenbar keineswegs artenärmer sind als die naturnahen Laubwälder. Die größte tierische Biomasse bilden die Wirbellosen. Im Buchenwald beträgt sie rund 70 Kilogramm Trockengewicht pro Hektar. Säugetiere und Vögel erreichen zusammen nur einen Bruchteil dieser Masse.

Die Forscher stellten schließlich eine Bilanz über den Energiehaushalt des

Buchenwaldes auf. Der pflanzliche Abfall pro Jahr und Hektar enthält etwa 30 Millionen Kilokalorien an gebundener Sonnenenergie. Bis zu 90 Prozent dieser gespeicherten Energie werden von den wirbellosen Tieren verbraucht. Die Mikroorganismen in der oberen Bodenschicht verwerten den Rest, so daß sich für die Moderschicht des Bodens ein Gleichgewichtszustand zwischen Zufuhr und Abbau einstellt.

Im Solling-Projekt wurde vorwiegend ökologische Grundlagenforschung betrieben. Dennoch wurden die Forscher unfreiwillig auch mit den Schwierigkeiten des angewandten Naturschutzes konfrontiert. So waren etwa die Buchenstämme zu Beginn des Projekts von bunten Flechtenteppichen überzogen. Heute zählen die Flechten im Solling zu den Raritäten. Die Botaniker mußten rasch arbeiten, um die verschwindenden Arten wenigstens noch wissenschaftlich erfassen zu können.

Große Veränderungen spielen sich auch im Boden ab. Die von Professor B. Ulrich von der Universität Göttingen geleitete Forschergruppe stellte fest, daß der Säuregehalt während des Untersuchungszeitraums durch die sauren Niederschläge wesentlich gestiegen ist. Dadurch nimmt die Konzentration an Aluminium-, Mangan- und Eisenionen in der Bodenlösung zu, was zu Pflanzenschäden führen kann. Außerdem nehmen durch die Versauerung die im Boden gespeicherten Nährstoffvorräte

ständig ab. Der Bedarf der Pflanzen, etwa an Stickstoff und anderen Nährelementen, wird zunehmend durch die Luftverunreinigungen gedeckt. Einige dieser Verbindungen werden in so hoher Menge herangetragen, daß sie sich im Ökosystem anreichern. Nach Ulrichs Anregungen wurden mathematische Verfahren entwickelt, die den Stoffkreislauf in den Beständen modellhaft beschreiben.

Das Solling-Projekt hat nicht nur eine überwältigende Fülle wissenschaftlicher Erkenntnisse gebracht, sondern auch gezeigt, wie die biologischen und abiotischen Abläufe im komplexen Ökosystem erforscht werden können. Freilich hat sich auch ergeben, daß derartige Untersuchungen über eine wesentlich längere Zeit als die ursprünglich geplanten sechs Jahre vorgenommen werden müssen. Die Leistung der zeitweise mehr als hundert Forscher, die häufig in wissenschaftliches Neuland vorgestoßen sind, und die Koordination durch Ellenberg haben dazu geführt, daß das Unternehmen im Solling in mancher Hinsicht zu einem Vorbild für die Ökosystemforschung in vielen anderen Ländern wurde. Am Beispiel der Bodenversauerung hat sich außerdem gezeigt, wie wichtig die ökologische Grundlagenforschung für das bessere Verständnis der Umweltbelastungen.

REINHARD WANDTNER

Sammelgeräte für wirbellose Tiere sind die unerläßliche Voraussetzung für die Erforschung der Bodenfauna eines Ökosystems. Die Tiere werden durch das an der Spitze Eklektoren gelockt. Durch Beobachtungen über eine längere Zeit lassen sich damit Aussagen über die Struktur und die Dynamik der Tiergesellschaften und der einzelnen Populationen machen. Diese Ergebnisse stellen ein wichtiges Glied für das Verständnis des Stoff- und Energieumsatzes in einem Ökosystem, etwa in einem Buchenwald, dar.


Wir drucken diesen Artikel mit Genehmigung der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG vom 2.Juni 1982 ab. Er macht nicht nur mit der bahnbrechenden Arbeit des Sollingprojekts bekannt, er klärt vor allem auf prägnante Weise, was Ökologie ist und kann.

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