EGGE-WESER 1986 Band 3 / Heft 4 195-200

Das Kleine Liebesgras (Eragrostis minor Host) auf dem Hochschulgelände in Höxter

Hans Böttcher

Lehrgebiet Vegetationskunde der Universität-GH-Paderborn, Abt. Höxter

Herrn Dr. Fritz Runge in Dankbarkeit zum 75. Geburtstag gewidmet

Ende September 1985 "stolperte" ich auf denn Klinkerbelag vor dem Eingang zum Verwaltungsgebäude der Abteilung Höxter der Universität -GH-Paderborn, gleich oberhalb der dort hinaufführenden Freitreppe, über zwei flach den Klinkern angedrückte Horste des Kleinen Liebesgrases (Eragrostis minor Host = E. poaeoides P. B.). Sie waren fast völlig abgestorben, wie überhaupt die Klinkerfläche sich weitgehend frei von Bewuchs zeigte. (Trotz verschiedener Vorstöße des Studienganges Landespflege, auf die Anwendung von Pflanzengiften im Hochschulgelände ganz zu verzichten, glaubt die Verwaltung, ohne solche ihrer Verkehrssicherungspflicht nicht Genüge tun zu können.) Unmittelbar vor Beginn meines Urlaubs Mitte Juli dieses Jahres entdeckte ich an der gleichen Stelle wiederum zwei Horste dieses einjährigen Grases. Ich bat daraufhin den Leiter der Verwaltung, Herrn GROTE, wenigstens diesen Bereich von den Vergiftungsaktionen auszunehmen, was er mir bereitwillig zusagte. Dafür an dieser Stelle noch einmal Dank !

Der Erfolg: Am 20. August 1986 wuchsen über eine Fläche von etwa 10 m2 verteilt 35 Horste des Kleinen Liebesgrases, z.T. reich blühend und fruchtend, z.T. kaum erst dem Keimlingsstadium entwachsen. Meine Überraschung war groß, als ich anschließend auf dem mit Beton-Verbund-Pflaster befestigten Parkplatzgelände zahlreiche kleinere und größere Bestände mit schließlich nicht mehr zählbaren Horsten des Grases feststellte, und zwar auf beiden Ebenen jeweils auf der nicht von den begrenzenden Bergahorn-Bäumen beschatteten Hälfte.

Was macht nun diesen Fund so interessant, daß hier so ausführlich darüber berichtet wird? Eragrostis minor ist nach HEGI (CONERT 1983) in den wärmeren Gebieten der Alten Welt zu Hause. In Europa umfaßt ihr natürliches Areal das mediterrane, pannonische, pontische und warm-atlantische Gebiet. Von hier aus ist sie nach Amerika, Südafrika, Australien und Neuseeland eingeschleppt worden. Nördlich der Alpen wurde sie erstmals im 18. Jahrhundert in der Umgebung von Basel gefunden. Heute ist sie in den wärmeren Bereichen Süddeutschlands (z.B. Oberrhein, Würzburg) verbreitet.

In Norddeutschland (einschließlich des südniedersächsischen Berglandes) war Eragrostis minor in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts offensichtlich unbekannt. Jedenfalls führt keine der einschlägigen Gebietsfloren die Art an (vgl. hierzu BÖTTCHER 1970). Sie wurde erstmals von KÜSEL (1968) aus dem Bremer Raum und von DIERSSEN (1968) aus Bad Münder nachgewiesen. Ich beschrieb Vorkommen aus Minden und dem Raum Hannover (BÖTTCHER 1970, 1977). Alle diese Vorkommen liegen im Bereich von Bahnanlagen.

Aus Westfalen führt die sehr ausführliche Flora von BECKHAUS (1893: 972) ein einziges Vorkommen an: "Hospitierend auf Schutt bei Hattingen". RUNGE (1972: 485) zählt inzwischen 17 Orte auf, (darunter eine alte Angabe von BOENNINGHAUSEN 1824: Brackwede), die schwerpunktmäßig im Ruhrgebiet und östlich bis Soest, einige weitere entlang der Bahnstrecke Gütersloh - Minden gelegen sind. Für den Kreis Höxter nennen PREYWISCH et al. (1982) Eragrostis minor ohne nähere Fundortangabe, was bedeutet, daß die Angabe aus dem "Atlas zur Flora von Südniedersachsen" (HAEUPLER 1976) entnommen ist. Dort ist im Bereich des Kreises Höxter (in der Abgrenzung von PREYWISCH et al.) ein Punkt im Quadranten 4322/4 eingetragen. Diese Deutung wurde mir von Herrn PREYWISCH (mdl.) bestätigt, der aber den genauen Wuchsort innerhalb des Quadranten, in dem Bad Karlshafen liegt, nicht kannte. (Ein weiterer Punkt findet sich bei HAEUPLER (1976) im Bereich des östlich benachbarten Quadranten 4323/3.)

Eine Nachsuche am 21. 8. 1986 auf den gepflasterten alten Plätzen Bad Karlshafens blieb negativ, aber auf dem Bahnhofsvorplatz wurden wir fündig (Aufn. 1+4 der Tabelle).
Insgesamt ergibt sich aus der Schilderung das Bild einer wärmebedürftigen Pflanzenart, die sich in den letzten Jahrzehnten nach Norden ausbreitet. Ein ähnliches Verhalten zeigen auch einige andere Pflanzenarten, z. B. die Zwerg-Wasserlinse (Wolffia arrhiza) oder auch der bekannte Berg-Ahorn (Acer pseudoplatanus). Wie weit sich hierin die von den Klimatologen beobachtete Erhöhung der langjährigen Mitteltemperatur im gleichen Zeitraum widerspiegelt, muß zumindest für Eragrostis minor fraglich bleiben. Bei dieser Art könnte auch das Angebot für sie besiedelbarer anthropogener Standorte in einem klimatisch sonst ungünstigen Gebiet eine Rolle spielen.

In Südeuropa scheint Eragrostis minor vor allem in Unkrautgesellschaften der Hackfruchtkulturen zu wachsen (HORVAT etal. 1974). Auch in Süddeutschland kommt sie im Oberrheingebiet in einer solchen Gesellschaft vor, dem Digitario-Eragrostietum Tx. 1950 (MÜLLER 1983). Die Gesellschaft wächst verhältnismäßig selten auf sich stark erwärmenden Sandböden, wobei sie am besten dort entwickelt ist, wo die Feldfrucht lückig steht. Weit häufiger kommt Eragrostis minor in kurzlebigen Trittgesellschaften auf durchlässigen, sich stark erwärmenden Standorten vor, z.B. dem Polygonetum calcati Lohm. 1975 (OBERDORFER 1983b) oder dem Bryo - Saginetum procumbentis Diem., Siss. et Westh. 1940 (HÜLBUSCH 1973). In beiden Gesellschaften wird in der Literatur eine durch Eragrostis minor gekennzeichnete Subassoziation unterschieden, auf den jeweils stärker sandigen Substraten.

Von meinen in der Tabelle zusammengestellten Aufnahmen gehört die erste sicher zum Polygonetum calcati, (bei den Aufn. 1 + 4 handelt es sich um Polygonum calcatum, während bei den übrigen die Kleinart von Polygonum aviculare nicht bestimmt wurde). Die Aufn. 4 - 6 müssen dem Bryo - Saginetum zugeordnet werden, die Aufn. 2 + 3 aus Würzburg nehmen eine Mittelstellung zwischen den beiden Assoziationen ein. Zum Vergleich ist eine Aufnahme (7) des Bryo-Saginetum ohne Eragrostis minor vom schattigeren Teil des Hochschul-Parkplatzes beigefügt.

Je weiter Eragrostis minor nach Norden vordringt, desto mehr beschränkt sie sich auf "physiologisch warme" Extremstandorte. So verwundert es nicht, daß alle Fundorte im nordwestdeutschen Flachland im Bereich von Bahnanlagen liegen, die konstruktionsbedingt aus besonders durchlässigen und damit sich leicht erwärmenden Substraten bestehen.

Die Größe und Individuenzahl der Bestände auf dem Hochschulgelände in Höxter lassen vermuten, daß das Kleine Liebesgras sich nicht erst 1985 hier angesiedelt hat. Da es in Bad Karlshafen schon seit mehr als zehn Jahren wächst, könnte es auch an anderen Orten des Kreises Höxter vorkommen, worauf man achten sollte. Deshalb folgt abschließend eine kurze Beschreibung des Grases, das man bei flüchtigem Hinsehen leicht für das an solchen Standorten immer vorkommende Einjährige Rispengras (Poa annua) halten kann. Es unterscheidet sich aber sofort durch die viel dicker wirkenden, in der Rispe zahlreichen Ährchen und die lang zugespitzten Blätter.

Die etwa 4 - 10 mm langen und 1,5 - 2 mm breiten Ährchen enthalten bis zu 20 Blüten. Die zahlreichen Rispenäste stehen meist einzeln. Die Blätter besitzen relativ kurze, an nicht betretenen Stellen aber auch bis zu 8 cm lange Spreiten, bei 2 - 4 mm Breite, die in eine lange, feine Spitze auslaufen. Die Blattscheiden sind mehr oder weniger dicht mit 1 - 2 mm langen Haaren besetzt, mit einem deutlichen Haarbüschel an der Scheidenöffnung. Anstelle des Blatthäutchens findet sich ein Wimpernkranz sehr kurzer Haare.

An stärker betretenen Stellen sind die Horste gewöhnlich dicht dem Boden angepreßt, sonst können die Halme auch knickig aufsteigen und bis zu 15 cm hoch werden. Als wärmebedürftige Pflanze keimt das einjährige Gras erst spät, seine Blütezeit liegt bei uns im August.

Neben Eragrostis minor sind gelegentlich adventiv E. pilosa und E. cilianensis [= E. megastachya], beide z.B. bei RUNGE (1972) angeführt, und neuerdings häufiger, anscheinend aus Grasansaaten, die viel größere E. tef (LADEWIG 1976) beobachtet worden.


Schriften

BECKHAUS, K. -1893- Flora von Westfalen. - Münster (Westf.): Aschendorff. XXII, 1096 S.

BOENNINGHAUSEN, C.M. F. von -1824- Prodromus Florae Monasteriensis Westphalorum. - Münster, (zit. nach RUNGE 1972).

BÖTTCHER, H. -1970- Ein weiterer Fundort des Kleinen Liebesgrases (Eragrostis poaeoides) in Ostwestfalen. - Natur u. Heimat 30: 95-97. Münster (Westf.).

BÖTTCHER, H. -1977- Einige Funde seltener Pflanzenarten als Ergänzung zum "Atlas zur Flora von Südniedersachsen". - Gott. flor. Rundbr. 11: 109-115. Göttingen.

CONERT, H. J. -1983- Eragrostis. - In: Hegi, G.: Illustrierte Flora von Mitteleuropa. 3. Aufl. Bd. 1, Teil 3, Lief. 2: 82-93. Berlin, Hamburg: Parey.

DIERSSEN, K. -1968- Eragrostis poaeoides auch in Bad Münder. -Mitt. flor.-soz. Arbeitsgem. N.F. 13: 9. Todenmann ü. Rinteln.

HAEUPLER, H. -1976- Atlas zur Flora von Südniedersachsen. - Scripta geobot. 10: 1-367. Göttingen.

HORVAT, I., GLAVAC, V. & ELLENBERG, H. -1974- Vegetation Südosteuropas. - Stuttgart: G. Fischer. XXXII, 768 S.

HÜLBUSCH, K. H. -1973- Polygono - Coronopion-Gesellschaften aus dem Ruhrgebiet. - Mitt. flor.-soz. Arbeitsgem. N.F. 15/16: 47-55. Todenmann, Göttingen.

KÜSEL, H. -1968- Zur Einbürgerung des Kleinen Liebesgrases (Era-grostis poaeoides P.B.) in Nordwestdeutschland. - Mitt. flor.-soz. Arbeitsgerät. N.F. 13: 10-13. Todenmann ü. Rinteln.

LADEWIG, K. -1976- Eragrostis tef (Zuccagni) Trotter in der BRD. -Gott. flor. Rundbr. 10: 24-27. Göttingen.

MÜLLER, Th. -(1981) 1983- Klasse: Chenopodietea Br.-Bl. in Br.-Bl. et al. 52. - In: Oberdorfer, E. (ed.): Süddeutsche Pflanzengesellschaften. 2. Aufl. Teil 3: 48-114. Stuttgart, New York: G. Fischer.

OBERDORFER, E. -1983a- Pflanzensoziologische Exkursionsflora, 5. Aufl. - Stuttgart: Ulmer. 1051 S.

OBERDORFER, E. -(1976) 1983 b- Klasse; Plantaginetea majoris Tx. et Prsg. in Tx. 50 em. Oberd. et al. 67. - In: Oberdorfer, E. (ed.): Süddeutsche Pflanzengesellschaften. 2. Aufl. Teil 3: 300-315. Stuttgart, New York: G. Fischer.

PREYWISCH, K., BRINKMANN, H., DETTMAR, J., HELDT, Elisabeth & RODE, M. -1982- Liste der Farn- und Blütenpflanzen, die im Kreise Höxter wild wachsen. - Egge-Weser 1(3): 85-121. Höxter.

RUNGE, F. -1972- Die Flora Westfalens. 2. Aufl. - Münster (Westf.): Verlag Westf. Vereinsdruckerei. 550 S.


Anschrift des Verfassers:

Prof. Hans Böttcher
Lehrgebiet Vegetationskunde
Universität-GH- Paderborn, Abt. Höxter
An der Wilhelmshöhe 44D-3470 Höxter

Übrigens: Der deutsche Name "Liebesgras" ist eine Übersetzung der wissenschaftlichen Bezeichnung "Eragrostis", die aus den griechischen Wörtern: "eros" = Liebe und "agrostis" = Bezeichnung einiger Gräser, zusammengesetzt ist.