EGGE-WESER 4 (1) 63-67 FESTSCHRIFT
zum 70. Geburtstag von
KURT PREYWISCH
Höxter 1987

Zum Graureiher (Ardea cinerea) im Wesertal

Volker Konrad

Anfang 1971 zog ich nach Holzminden. Damals war der Graureiher im Landkreis Holzminden als Brutvogel ausgestorben. Der genaue Zeitpunkt des Erlöschens der letzten Brutvorkommen war nicht in Erfahrung zu bringen. - Ich nehme an, daß es Anfang der fünfziger Jahre gewesen sein müßte.

Dennoch konnte man auch in den siebziger Jahren zu jeder Jahreszeit Graureiher antreffen, je nach Gebiet und Jahreszeit sogar recht zahlreich, vor allem im Wesertal selbst. Bei all diesen Vögeln handelte es sich aber eben nicht um lokale Brutvogel.

Die nächsten Brutkolonien lagen - und liegen - in den Kreisen Hameln und Höxter. So ist anzunehmen, daß sich im Sommerhalbjahr Brutvogel aus den Nachbarkreisen und Nichtbrüter aus derselben Population bei uns aufhielten. (Auf Vögel aus weiter entfernten Brutgebieten konnte ich damals noch nicht schließen.) Im Winterhalbjahr hingegen wird wohl ein beachtlicher Teil der Reiher von Durchzüglern und Wintergästen aus nördlichen und östlichen Gebieten gestellt. Wie hoch dieser Anteil ist, oder wieviele der einheimischen Brutvogel im Winter bei uns bleiben, ist nicht bekannt.

Seit 1980 haben wir wieder eine kleine Kolonie im Kreisgebiet Holzminden. Sie liegt an der Landes- und Kreisgrenze Nordrhein-Westfalen zu Niedersachsen bzw. Höxter zu Holzminden, direkt an der Weser bei Heinsen. Der Bestand dort stieg bis 1986 auf 14 besetzte Horste an. - Eine erfreuliche Entwicklung!

Interessant ist, daß in demselben Zeitraum im Kreis Höxter die einzige Kolonie bei Beverungen (gegenüber dem KKW Würgassen) von 42 auf 24 besetzte Horste abgenommen hat. Es liegt nur zu nahe anzunehmen, daß sich diese Kolonie geteilt hat und daß die bei Heinsen "nur" ein Ableger ist. K. PREYWISCH (1982) hatte über die Beverunger Kolonie und die Neugründung berichtet.

Aus dem Landkreis Hameln liegen mir keine Angaben über die Bestandsentwicklung vor.

Ganz allgemein ist kaum zu bestreiten, daß der Sommer- und Brutbestand des Graureihers im Wesertal zugenommen hat. Man sieht die Vögel viel häufiger als früher, und man findet sie fast regelmäßig auch an kleinen Bachläufen und Teichen, z.B. im Solling und Vogler, weitab der Kolonien und der früheren Haupteinstände in den Wesermarschen.

- 64 -

Deshalb befürchte ich, daß diese erfreuliche Bestandsentwicklung Gegenmaßnahmen seitens der Fischerei- und Jagdinteressenten hervorrufen wird. In Niedersachsen ist die Genehmigung zum Abschuß eines Graureihers nur noch eine "Formsache". Schon die Unteren Naturschutzbehörden, d.h. die Landkreise, dürfen sie geben. In Westfalen steht der Graureiher (noch) ganzjährig unter Schutz. Unter diesem Aspekt wäre es sicherlich nützlich zu wissen, inwieweit solche Maßnahmen zur "Bestandskontrolle" wirklich den von ihren Initiatoren gewünschten Erfolg bringen könnten?

Diese Frage wird insofern besonders interessant, als eine Bejagung zur Brutzeit aus Gründen der "Weidgerechtigkeit" im allgemeinen abgelehnt wird: Man möchte nicht Altvögel abschießen, die Eier oder nicht flügge Jungen im Nest haben, weil dann mit dem Abschuß eines solchen Vogels die ganze Brut verloren ginge, zum anderen das Absterben der Eier oder das "elende" Verhungern der Jungen "ethisch" nicht vertretbar wäre. Sinn oder Unsinn dieser Ansicht zu diskutieren ist müßig! Aber es ist anzunehmen, daß die Bejagung der Reiher meist außerhalb der Brutzeit, vornehmlich im Winterhalbjahr erfolgen würde.

Nun wissen die ornithologisch Versierten zwar, daß wir im Herbst, Winter und Frühjahr (vielleicht auch im Sommer?) einen erheblichen Anteil von Graureihern im Gebiet haben, die nicht bei uns brüten (siehe oben). Die einschlägige Literatur, z.B. das "Handbuch der Vögel Mitteleuropas", ist aber nur wenigen zugänglich. Und in Jagdkreisen gelten solche Werke im allgemeinen als "Propaganda aus dem feindlichen Lager". Sie werden kaum gewürdigt, geschweige denn berücksichtigt. In der Tat wäre aber zu erwarten, daß eine Bejagung der Graureiher im Winterhalbjahr im Wesertal wohl (mindestens) zum größten Teil "Gastvögel" aus den Populationen Nord- und Osteuropas, z.B. aus dem Ostseeraum treffen würde!

Diese Annahme wurde kürzlich durch einen Ringfund in Holzminden bestätigt: Einer meiner Kollegen ist Fischteich-Besitzer. Er fand am 22.3.1986 einen immaturen Graureiher "frisch-tot" im Wehr am Abfluß seiner Teiche (s. Fotos).

- 65 -

Der unglückliche Vogel hatte wohl dicht vor dem Wehr gefischt, denn dort stehen gerne Forellen. Dann hatte er sich wohl im Jagdeifer in der Enge zwischen Brücke und Wehr verfangen, dort war er dann ertrunken. Der Reiher war unverletzt.

Dieser Graureiher trug einen Ring der Vogelwarte Hiddensee, DDR. Und meine Nachfrage dort wurde wie folgt beantwortet:

(NJG. bei Alter = nestjung)

Dieser Vogel stammte also aus einer Kolonie in der DDR, und zwar vom Rahmersee im Kreis Bernau in Brandenburg, das ist nördlich von Berlin! Dort war er nestjung am 27. 5. 1985 beringt worden. Er wurde nur 299 Tage alt, bis er schon in seinem ersten Winter bei uns starb.

Ein eindeutiger Beweis dafür, daß wir im Winterhalbjahr (auch) Graureiher im Wesertal haben, die nicht hier brüten. Das halte ich für bemerkenswert und wertvoll, bestätigt zu wissen. Denn die Kenntnis des Ziehens unserer Graureiher ist in Fischerei- und Jagdkreisen nicht weit verbreitet, einfach, weil wir immer, d.h. zu jeder Jahreszeit Graureiher im Gebiet haben. Außerdem zeigen die Reiher kein augenscheinliches Zugverhalten, wie etwa Kraniche oder Wildgänse. Sie ziehen meist nachts und bleiben dabei unbemerkt.

Das Fischteich-Gelände, wo der verunglückte Vogel gefunden wurde, liegt im Stadtgebiet von Holzminden. Dort finden sich fast alltäglich regelmäßig ein paar Reiher ein. Der Besitzer duldet sie! - Auf Grund dieser Lage des Fundortes (abseits der üblichen Rastplätze ziehender Graureiher an der Weser) und des "regelmäßigen", vertrauten Verhaltens der Vögel dort, betrachte ich den gefundenen Reiher als Dauer-Wintergast und halte ihn nicht für einen zufällig dort rastenden Durchzügler.

- 66 -

Da er noch nicht einmal ein Jahr alt war, hätte er im kommenden Sommer wahrscheinlich noch nicht gebrütet. Denn Graureiher brüten normalerweise erstmals im zweiten oder dritten Sommer. Und oft kehren sie auch erst in diesem Alter zu ihrer "Geburtskolonie" zurück. Bis zu dieser Zeit zigeunern sie umher. - Vielleicht wollte unser Vogel auch bei uns im Wesertal übersommern?

Wenn uns der Schutz der Graureiher im Wesertal am Herzen liegt, dann sollten wir dafür sorgen, daß in Fischerei- und Jagdkreisen ein paar Grundkenntnisse über diese Vögel bestehen - und bei der eventuellen Bejagung berücksichtigt werden:

  1. Wir haben wahrscheinlich zu allen Jahreszeiten einen Anteil von Graureihern im Gebiet, die nicht bei uns im Wesertal erbrütet wurden; Vögel, die aus dem Norden und Osten Europas stammen.

  2. Eine Bejagung der Graureiher im Winterhalbjahr würde höchstwahrscheinlich in erster Linie solche Gastvögel treffen - und sich daher kaum nennenswert auf den Brutbestand der einheimischen Population auswirken! Denn im Winter ist die Anzahl der bei uns durchziehenden und überwinternden fremden Vögel (aus dem Norden und Osten Europas) besonders hoch. Es würden also die erfolgreichen Schutzbemühungen und Ansiedlungsversuche in diesen Ländern zunichte gemacht. (Tatsächlich nimmt der Graureiher dort wohl stark zu!?)

  3. Unsere Brutvögel aus dem Wesertal hingegen überwintern hauptsächlich in den Beneluxländern, Frankreich, Spanien, Portugal usw., manche vielleicht schon in Süddeutschland. Dort besteht in manchen Gebieten immer noch ein intensiver Jagddruck auf Graureiher! Dementsprechend erholen sich unsere Brutbestände nursehr zögernd, schleppend. Es besteht von daher keine Veranlassung, die Bejagung in Deutschland zu verstärken.

  4. Fischereischäden durch Reiher lassen sich durch gezielte (dem Gebiet angepaßte) Abwehrmaßnahmen und durch das Angebot spezieller Nahrungsgewässer für die Reiher sehr viel erfolgreicher verhindern! In Anbetracht der beschriebenen Lage des Graureiher-Bestandes im Wesertal und des Zugverhaltens der Vögel sind solche Maßnahmen einer Bejagung vorzuziehen!

Ich danke Herrn K. PREYWISCH für die Unterstützung mit neueren Angaben zum Brutbestand der Graureiher im Kreis Höxter und Herrn K.-H. SCHUMACHER für das Überlassen der beiden Fotos.

Schriften

BAUER, K. M. & GLOTZ VON BLOTZHEIM; U. N. -1966- Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Band 1. - Wiesbaden.

CONRAD, K. -1981- Die Verbreitung der Brutvögel in Ostwestfalen-Lippe 1976-1980. - Ber. naturwiss. Ver. Bielefeld 25: 7-51. Bielefeld.

CRAMP, S. & SIMMONS, K. E. L. -1977- Handbook of the birds of Europe, the Middle East and North Africa 1 . - Oxford, London, New York.

GOETHE, F., HECKENROTH, H. & SCHUMANN, H. -1978- Die Vögel Niedersachsens. - Natursch. LandschPflege Nieders. Hannover.

HECKENROTH, H. -1985- Atlas der Vögel Niedersachsens und des Landes Bremen 1980 mit Ergänzungen aus den Jahren 1976 - 1979. - Natursch. LandschPflege Nieders. 14: 1 - 428. Hannover.

KLAFS, G. & STÜBS, J. -1977- Die Vogelwelt Mecklenburgs. - Avifauna der DDR 1. Jena: VEB Fischer. (358 S.).

KONRAD, V. -1980- Merkblatt Graureiher für die DBV-Ortsgruppe Holzminden. KONRAD, V. -1982- Meldungen an das Niedersächsische Landesverwaltungsamt. (Unveröff.). PEITZMEIER, J. -1969- Avifauna von Westfalen. - Abh. Landesmus. Naturk. Münster 31 (3): 1 -480. Münster.

67

PREYWISCH, K. -1962- Die Vogelwelt des Kreises Höxter. - Bielefeld: Gieseking. (151 S.).

PREYWISCH, K. -1980- Unsere letzten Graureiher. - Jb. Kreis Höxter 1980. Höxter.

PREYWISCH, K. -1982- Ungewöhnliches aus unserer Pflanzen- und Tierwelt: Ardea cinerea. -Egge-Weser 1 (4): 193-195. Höxter.

PREYWISCH, K. -1983- Die Verbreitung der Wirbeltiere im Kreis Höxter. - Egge-Weser 2 (2): 43 - 108. Höxter.

RUTSCHKE, E. (Herausg.) -1983- Die Vogelwelt Brandenburgs. - Avifauna der DDR 2. Jena: VEB Fischer. (385 S.).

SCHERNER, R. -1977- Möglichkeiten und Grenzen ornithologischer Beiträge zur Landeskunde und Umweltforschung an Beispiel der Avifauna des Solling.

SCHUSTER, S. et al. -1983- Die Vögel des Bodenseegebietes. - Konstanz: Ornith. Arbeitsgem. Bodensee.

WÜST, W. -1979- Avifauna Bavariae. - Die Vogelwelt Bayerns im Wandel der Zeit 1. München. (727 S.).

Anschrift des Verfassers: Volker Konrad, Moltkestr. 6, D-3450 Holzminden