EGGE-WESER 5 (1) 11-18 Herausgegeben im Auftrag des Naturk. Vereins Egge-Weser ... Höxter 1988

Eine Schneegans (Anser caerulescens) in den Weserwiesen bei Holzminden

Volker Konrad

Im Laufe einer Exkursion durch die Weserwiesen nördlich Holzmindens wurde am 20.12.1987 eine Schneegans (Anser caerulescens) beobachtet.

Beobachtung:

Bei lauen Südwest-Winden mit mehr oder minder ununterbrochenem leichten Nieselregen herrschte wegen der dichten Bewölkung nur sehr trübes Licht. Meine Wanderung führte von der Lindenallee (Holzminden) an der Müllkippe entlang nach Norden durch die Kiesteiche ( ein Rothalstaucher = Podiceps griseigena) , und dann westlich in die Wiesen und Weiden an der Weser.

Als ich die Wasserfläche flußabwärts (nach Norden) absuchte, gewahrte ich in großer Entfernung (ca. 500 m) einige große weiße Vögel, offensichtlich Schwäne. Mit dem Glas konnte ich sie als Höckerschwäne (Cygnus olor) bestimmen.

Bei der Durchsicht fiel mir in der Gruppe ein kleinerer Vogel auf. Der schien auf diese Distanz grauer, und vielleicht an Kopf und Schwanz ("vorn und hinten") dunkler, womöglich schwärz/schwärzlich.

Einen halbwüchsigen Jungvogel konnte ich wegen der Jahreszeit ausschließen. Gänsesäger-Männchen, Brandgans und andere Arten wären interessant gewesen, daher beschloß ich, mir den Vogel näher anzusehen. Dabei gewährte mir die Baumreihe am Hellgraben Sichtschutz bis auf die letzten etwa 100 m. Als ich durch diese Baumreihe stieß, erkannte ich unter zwölf Höckerschwänen eine einzelne Schneegans.

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Verhalten:

Der Vogel war ungemein wachsam! Bei Erscheinen von Menschen, z.B. Wanderern und Joggern auf dem nahen Forster Damm, reagierte er schon auf große Distanz (ca. 500 m). Während die Schwäne noch am seichten Ufer mit den Köpfen im/unter Wasser ästen, "riß" die Gans den Kopf schon hoch und schwamm in Richtung Flußmitte. Als die Stockenten abflogen, wurde sie sichtlich nervös. - Die Schwäne schauten gerade "träge" auf.

Ich näherte mich (auf dem Forster Damm) bis auf 70-80 Meter. Da war die Schneegans schon in der Flußmitte. (Die Schwäne blieben am Ufer!) Offensichtlich hochalarmiert zögerte sie doch abzufliegen. Ihre "Affinität" zu den "relativ" vertrauten Höckerschwänen schien größer als die zu den recht scheuen (Jagdzeit!) Stockenten. - Als ich ruhig stehen blieb, zogen auch die Schwäne langsam, zögernd etwas stromab, um aber schon nach etwa zwanzig Metern wieder an das Ufer zurückzukehren und die Nahrungssuche wieder aufzunehmen. Schon nach kurzer Zeit näherte sich auch die Schneegans - und dann kam sie mitten unter den Schwänen ebenfalls an Land, um im seichten Wasser zu grasen. Dabei blieb sie - gänsetypisch - wachsam. Sobald ein Wanderer erschien, oder wenn ich mich bewegte, "sauste" der Kopf hoch und gegebenenfalls zog sie sich ins tiefe Wasser zurück, das heißt schwamm auf den Fluß hinaus. - Sie kehrte aber immer wieder zurück zu den Schwänen! - Während dieser Manöver rief sie mehrfach leise "unterdrückt": "HOHNK"!

Kennzeichen:

Es handelte sich um einen diesjährigen Jungvogel (1. Winter), ich vermute (wegen des dicken Halses) einen Ganter. Der Vogel wirkte gesund, das heißt "gut im Futter", und stark. Das Gefieder war völlig - soweit ich es erkennen konnte - in Ordnung, keine Spuren einer Beschneidung oder früherer Volierenhaltung.

Im Vergleich mit den Schwänen war die Gans sehr klein, ich schätze etwas kleiner als eine Graugans (Anser anser). Figürlich entsprach sie weitgehend dieser Art, war aber hochbeiniger und etwas kurzhalsiger. Sie wirkte sehr kräftig, untersetzt, fast massig, mit "breiter" Brust, "dickem" Hals und starkem Schnabel.

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Die kräftigen, langen Läufe erinnerten mich etwas an Silber- und Mantelmöwe (obwohl sie natürlich viel dicker waren!).

Auffällig, weil bei anderen Gänsearten nicht vorhanden, war die bei Altvögeln zu Schmuckfedern ausgebildete Schulterbefiederung. Bei diesem Vogel war sie schon gut zu erkennen und ragte, noch etwas unordentlich, über die zusammengelegten grauweißen Arm- und die schwarzen Handschwingen hinaus.

Das Gefieder dieser Schneegans war bis auf die schwarzen Handschwingen nahezu weiß. Auf Rücken und Schultern gab es wenige (isolierte) kleine graubraune Flecken (einzelne Federn). Einige der großen Schulterfedern (Tertials = der späteren Schmuckfedern) und die Armschwingen waren noch grauweiß/schwarzweiß. Brust und Bauch waren rein weiß, manchmal schienen sie leicht gelblich!

Kopf und Hals wirkten grau(-weiß), weil hier offenbar noch viele kleine graue Federn im dichten Kleidergefieder standen. Besonders deutlich war ein grau (-schwarzer) "Aalstrich" vom Hinterkopf den Nacken und den ganzen Hals hinunter. Beim Grasen konnte ich auch erkennen, daß der Scheitel weiß war, umrandet von einem schmalen dunklen "Kron-Streif", der sich hinten zum Nackenband zog. Auf einige Entfernung schien ein schmaler dunkler Streifen vom Schnabel zum (dunklen) Auge zu führen. Aus der Nähe war dieser nicht zu sehen.

Der kräftige, hohe Schnabel wirkte auf Distanz einheitlich schwarz. Aus der Nähe waren nur Unterschnabel, Oberschnabel-Nagel und -Rand schwarz. Zur Nase und Stirn hin war die Schnabelerhebung deutlich heller, d.h. grau mit einem Strich rosa. Diese helle Zone war rechts und links (noch) von einer dunklen Leiste durchzogen.

Die kräftigen, hohen Läufe waren ebenfalls grau-rosa. Der Vogel erschien unberingt, soweit sich das erkennen ließ, wenn er im flachen Wasser umherwatete. - Die Schneegans blieb die ganze Zeit am Boden bzw. im Wasser. Sie flog nicht auf, und ich vermied es, sie aufzujagen, um möglicherweise in den folgenden Tagen (bei besserem Wetter) ein Belegfoto zu machen.

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Interpretation:

Dem Verhalten nach halte ich es nicht für ausgeschlossen, daß diese Schneegans ein Wildvogel war. Denn einerseits sind arktische Vögel oft recht vertraut gegen Menschen, andererseits sind Gänse für Wachsamkeit und Gelehrigkeit bekannt und können "verwildert" schnell Wildverhalten annehmen. - Allerdings gehe ich davon aus, daß ein diesjähriger Jungvogel zu dieser Jahreszeit kaum "schon lange" verwildert sein könnte. Insofern sollte er ggf. doch "vertrauter" gegen Menschen sein, als diese Gans es war.

Rassen/Status in Mitteleuropa:

Die Sichtung der mir verfügbaren Literatur ergab, daß Anser caerulescens in zwei Rassen vorkommt:

A. c. caerulescens - die Kleine Schneegans

aus dem arktischen Ostasien, dort nur in der weißen Form, (in historischer Zeit muß es dort ein gewaltiges und dicht besiedeltes Verbreitungsgebiet gegeben haben. Heute ist die Art dort nur noch an der Küste Ostsibiriens zu finden.) und Alaska/Kanada; im Norden Zentralkanadas auch in der dunklen ("blauen") Phase.

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A. c. atlanticus - die Große Schneegans

von den arktischen Inseln im Nordosten Kanadas und Grönland wird von vielen Autoren "monotypisch" genannt; demnach gäbe es nur (!) die weiße Form. - Lediglich CRAMP nennt die dunkle ("blaue") Form auch für A. c. atlanticus - allerdings "dark morph rare".

Während GLUTZ in seinem Handbuch alle mitteleuropäischen Nachweise der Nominatform Anser c. caerulescens zuschreibt, und Anser c. atlanticus nur "am Rande" erwähnt, kann man dem CRAMP nichts über - eventuell unterschiedliche - Häufigkeit und Vorkommen der beiden Formen in Europa entnehmen. Aber SCOTT nennt die Große Schneegans in Großbritannien einen "recht häufigen Gast" (dort erscheinen Schneegänse - Große und/oder Kleine - fast alljährlich! ) und die kleine müßte demnach - zumindest "auf der Insel" - die seltenere sein!

Das Bild wird wesentlich komplizierter und eine korrekte Interpretation des Status der beiden Rassen von Anser caerulescens in Mitteleuropa praktisch unmöglich gemacht, weil es viele Schneegänse (unbekannter Herkunft und Rasse) bei "unbekannten" (Privat-)Haltern gibt, und weil es bedauerlich oft "Entflieger" gibt. Diese tauchen alljährlich an den verschiedensten Orten Europas auf und stiften Verwirrung unter den Beobachtern.

Die beiden Rassen lassen sich angeblich - zumindest als Altvögel - sogar im Felde unterscheiden. Die Merkmale sind Größe, Schnabellänge und -stärke, Lauflänge und -stärke. Dabei ist Anser c. atlanticus die Form, die größer ausfällt, eben die Große Schneegans.

Ich hatte keine Vergleichsmöglichkeit! - Aber meine Kenntnis anderer Wildgänse und das Studium der Literatur mit vielen Abbildungen gestattet mir doch zumindest eine Vermutung: Danach würde ich diesen Vogel der Großen Schneegans (Anser caerulescens atlanticus) zurechnen.

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Status in Süd-Niedersachsen/Ost-Westfalen:

Bekanntlich ist das Weserbergland ornithologisch bislang nur sporadisch und punktuell bearbeitet worden. Daher mußten zur Beurteilung der Beobachtung auch die Avifaunen der weiteren Umgebung zurate gezogen werden.

PEITZMEIER nennt A. caerulescens für Westfalen überhaupt nicht! Ebensowenig findet man diese Art bei BEHRENS (e.a.) für Hessen! In der Avifauna Niedersachsens führt RINGLEBEN aber eine ganze Reihe Beobachtungen und Meldungen an. Eine davon stammt sogar aus Süd-Niedersachsen: von 1969 aus dem Raum Hildesheim. Damals wurde dort ein Schwärm von 25-30 Schneegänsen beobachtet. (Mir erscheint die ungenaue Zahlenangabe sehr mysteriös!)

Im übrigen folgt RINGLEBEN der "These" von GLUTZ, wonach alle (?) in Niedersachsen nachgewiesenen Schneegänse nur der Nominatform A. c. caerulescens aus Ostsibirien angehörten. Und er macht völlig klar, daß die Herkunft dieser Vögel unklar sei, ob aus Gefangenhaltung entflogen oder als Irrgäste aus den Brutgebieten verflogen. - Interessanterweise schreibt er, daß es sich in fast allen Fällen um Altvögel (!) handelte, die sich anderen Gänsearten angeschlossen hatten. - Beides trifft bei dem hier beschriebenen Vogel nicht zu!

Andere, weitere Meldungen dieser Art aus unserem Raum sind mir nicht bekannt. Zweifellos handelt es sich um eine recht außergewöhnliche Beobachtung. Und damit bestätigt sich einmal mehr, daß es sich immer noch lohnt, die einheimische Tierwelt zu beobachten!

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Schriften :

ALLEN, A.A. & Brooks, M.A. -1932-

BAILEY, A.M. & Niedrach, R.J. -1965- Birds of Colorado

BAUER, K.M. & Glutz, u.N. v.Blotzheim -1968- Handbuch der Vögel Mitteleuropas, Band 2/1 - Wiesbaden

BEHRENS, H., KIEDLER,K. e.a. -1985- Verzeichnis der Vögel Hessens

BEZZEL, E. -1985- Kompendium der Vögel Mitteleuropas. Nonpasseriformes

BRUUN, B., SINGER, A. & KÖNIG, C. -1986- Der Kosmos-Vogelführer

BULL, J. & FARRAND J. Jr. -1977- The Audubon Society Field Guide to North American Birds, Eastern Region

CRAMP, S. e.a. -1977- Handbook of the Birds of Europe,the Middle East and North Africa. Vol. I

FERGUSON-LEES, J., WILLIS,I. & SHARROCK, J.T.R. -1983- The Shell Guide to the Birds of Britain and Ireland.

FERGUSON-LEES, J., WILLIS, I. -1987- Vögel Mitteleuropas

GODFREY, N.E. -1979- The Birds of Canada

GOODERS, J. -1978- Birds of Ocean and Estuary

GUIGUET, C.J. -1915- The Birds of British Columbia, (6) Waterfowl

HEINZEL, H., FITTER, R. & PARSLOW, J. -1977- Pareys Vogelbuch

KEITH, S. & GOODERS, J. -1982- BLV-Vogelführer

KOLBE, H. -1977- Wasservögel in Freiland und Gehege

LANDSDOWNE, J.F. -1980- Birds of the West Coast - Vol. II

MAKATSCH, W. -1966- Wir bestimmen die Vögel Europas

NICOLAI, J. -1982- Fotoatlas der Vögel

OGILVIE, M. -1982- Wildfowl of Britain and Europe

PEITZMEIER, J. -1979- Avifauna von Westfalen

PETERSON, R.T. -1947- A Field Guide to the Birds

PETERSON, R.T. -1961- A Field Guide to Western Birds

PETERSON, R., MOUNTFORT G., HOLLOM,P.A.D. -1983- Die Vögel Europas

PREYWISCH, K. -1962- Die Vogelwelt des Kreises Höxter

RINGLEBEN, H. in: GOETHE, F., HECKENROTH, H. & SCHUMANN,H. -1985- Die Vögel Niedersachsens. Entenvögel

ROBBINS, C.S., BRUNN, B. e.a. -1966- Birds of North America

RUTSCHKE, E. -1987- Die Wildgänse Europas

SALT, W.R. & SALT, J.R. -1976- The Birds of Alberta

SCHERNER, R. -1977- Möglichkeiten und Grenzen ornithologischer Beiträge zu Landeskunde und Umweltforschung am Beispiel der Avifauna des Solling

SCOTT, P. -1961- Das Wassergeflügel der Welt

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SCOTT, S. -1983- Field Guide to the Birds of North America - National Geograghic Soc.

SOOTHILL, E. & WHITHHEAD, P. -1978- Waterfowl of the World

UDVARDY, M.D.F. -1977- The Audubon Society Field Guide to North American Birds, Western Region

USPENSKI, s.M.U. -1965- Die Wildgänse Nordeurasiens



P.S.

Die Schneegans war am Nachmittag des 20. 12. noch immer (bei den Schwänen) an dieser Stelle.

Am 23. 12. 87 schien endlich mal wieder die Sonne. Ich wollte ein Belegfoto machen und nahm mir am späten Vormittag frei. - Leider war die Gans nicht mehr am Ort. Auch in den folgenden Tagen blieben die Exkursionen im Wesertal (im Bezug auf Schneegans) erfolglos. Ich nehme an, daß der Vogel mit den Höckerschwänen weseraufwärts gezogen war. Vielleicht ist er inzwischen auch einem Jäger zum Opfer gefallen, der ihn dann wahrscheinlich nicht einmal richtig erkannt hat.



Anschrift des Verfassers: Volker Konrad, Moltkestr. 6, 3450 Holzminden, 3.01.1988




Anmerkung der Schriftleitung :

Der Verfasser hat mit seiner ersten Annahme recht. Die Schneegans wurde weseraufwärts fast bis heute mehrfach gesehen. Herr Schmid-Leißler zeigte sie am 7. Mai 1988 der Schiffs-Exkursion des Naturkundlichen Vereins Egge-Weser unterhalb Beverungen.

Eine Zusammenstellung der weiteren Beobachtungen ist für EGGE-WESER 1988/02 vorgesehen.